erdig, E in klarer Morgen, in der Luft liegt der Geruch des Herbstes, feucht, nach Fallobst, nach Kar- toffelfeuer. Am Tag zuvor hat Jochen Hartmann, 40, Landwirt aus Rettmer in Lüneburg, mit seinen Leuten noch die Ernte eingefahren, Tonnen über Tonnen von Kartoffeln lagern jetzt in der klimatisierten Halle. Kartoffeln im Wert von 200 000 Euro liegen hier in riesigen Gitterboxen, bis hoch zur Decke. Hart- mann hat mit seinen Maschinen im Früh- jahr Saatkartoffeln in den Boden gelegt, hat die Triebe und Pflanzen bewässert, sie vor Schädlingen und Krankheiten geschützt, bis zur Ernte, bis er die Kartoffeln aus dem Boden geholt hat. Aus dem Boden, der gibt und gibt, seit so vielen Jahren: Die früheste urkundliche Erwähnung des Gutes stammt aus dem 14. Jahrhundert. Jochen Hartmanns Betrieb ist straff organisiert. Er muss funktionieren, er ist optimiert, effizient. Minutengenau zeigen die Zifferblätter der Uhr, die mittig unter dem Giebel in die Backsteinwand des Hofes eingelassen ist, die Zeit an. Seit Jahrzehnten stellt Ursula Hartmann, Seniorchefin und Jochen Hartmanns Mutter, um Punkt zwölf Uhr das Mittagessen auf den großen Tisch in ihrer Küche, um den sich die Mitarbei- tenden versammeln. „Hier geht es immer genau zu“, sagt sie, „da achten wir sehr da- rauf.“ Die Uhr taktet den Tag. Und Früh- ling, Sommer, Herbst und Winter gliedern den Jahreslauf, bestimmen, wann gesät und wann geerntet wird, seit Jahrzehnten, Jahrhunderten. Die Hartmanns sind auf ihrem Land Bäuerinnen und Bauern in der 19. Generation. Sie kultivieren Getreide, Raps, Zuckerrüben und Kartoffeln. Und sie halten Hühner, die sich in einem rie- sigen Gehege, unter Bäumen, auf der Wie- se nach Herzenslust bewegen dürfen und deren Eier – wie auch die Hühner dann später selbst als Brathähnchen oder Sup- penhuhn – im Hofladen verkauft werden, zusammen mit Landbrot, feiner Leber- wurst, Nudeln. „2020, im Corona-Jahr, hat sich die Nachfrage nach unseren frei lau- fenden Hühnern verdoppelt“, sagt Hart- mann. „Die Leute sind in ihrem Denken sensibilisiert worden, auch die Eier waren immer schon mittags ausverkauft.“ Jochen Hartmann, der mit seiner Brille, den gemessenen Bewegungen und der ruhigen Stimme eher wie ein Lehrer oder ein Universitätsdozent wirkt und gar nicht wie ein Bauer, betreibt seine Land- wirtschaft wie 88 Prozent aller deutschen Bäuerinnen und Bauern auf konven- tionelle Weise, also: intensiv. 180 Hektar Land umfasst der Betrieb, das sind etwa 250 Fußballfelder. Er düngt, setzt Pflan- zenschutzmittel ein. Er hat große Felder, deren Bodenflächennutzung er optimiert hat. „Sonst kann man als Landwirt heute nicht überleben“, sagt er. Und steigt in sei- nen Wagen. Es geht los zu seinen Äckern gleich hinter dem Hof, er fährt mit uns sein riesiges Land ab. „Man braucht die Erträge aus jedem Quadratmeter Boden.“ Für die Wirtschaftlichkeit. Aber man braucht auch Brachen, wie Na- turschützer*innen immer lauter mahnen. Für die Artenvielfalt, für Feldvögel, Insek- ten, Würmer und Pflanzen, die das Ökosys- tem in Balance und den Boden gesund hal- ten, der dann wiederum viel CO2 speichern Rund ein Zehntel von Bauer Hartmanns Äckern (farbig) ist jetzt Experimentierfeld. Hier brühten Vögel, blühen Blumen. 13 kann. Artenvielfalt gedeiht nicht auf mono- tonen Riesenfeldern, sondern auf Wiesen, auf Ackerrändern, auf Böschungen, in Steinmauern und Hecken. In Randstrei- fen und in den wenig intensiv genutzten Feldern nisten Bodenbrüter wie Rebhüh- ner und Feldlerchen, von denen es immer weniger gibt, denn Brachflächen sind heute so gut wie verschwunden im Landschafts- bild. Es gibt sie kaum mehr in der hochop- timierten Landwirtschaft des 21. Jahrhun- derts, denn Wirtschaftlichkeit und wilde Wiesen vertragen sich nicht, Ökonomie und Ökologie sind keine Freunde. Auch weil den Landwirt*innen das Wirtschaften durch das Preisdumping immer schwerer gemacht wird. Die konventionellen Bäue- rinnen und Bauern wehren sich gegen die Verschärfung der Auflagen zu Düngung und Insektenschutz, die das Umweltminis- terium vorgibt. Bundesumweltministerin Svenja Schulze, SPD, versteht die aktuellen Proteste der Landwirt*innen. „Bei 69 Cent für einen Liter Milch und Schleuderprei- sen für Fleisch können es die Bauern kaum schaffen, gleichzeitig die Umwelt zu schüt- zen, für sauberes Trinkwasser zu sorgen und die Artenvielfalt zu erhalten“, sagt die Politikerin. 2020 sackte der Weltmarktpreis für Kartoffeln rapide ab – Corona machte das Feiern fast unmöglich, es wurden keine Pommes frites mehr verkauft, weil es keine Open-Air-Konzerte und keine Volksfeste gab und die Freibäder nur eingeschränkt geöffnet hatten. Der Preisdruck macht den Landwirt*innen zu schaffen. Natürlich ver- suchen sie, möglichst viel aus ihren Äckern herauszuholen, wenn es für die Ernte im- mer weniger Geld gibt. Biobetriebe, die den Boden behutsamer nutzen, machen nur 12 Prozent der deut- schen Landwirtschaft aus. Zwar ist die Agrarwende, also die Ökologisierung der Landwirtschaft, ein klares politisches Ziel. Doch diese Ökologisierung braucht Zeit. Zeit, die gerade davonläuft. Nicht nur Feld- lerchen und Kiebitzen, sondern auch uns Menschen, denn die Auswirkungen der konventionellen Landwirtschaft auf den Klimawandel sind gravierend. Seit 1980 ist in Europa die Zahl der Feldvogelarten >