So viele Insolvenzen wie noch nie zuvor, verschobene Finanzierungsrunden und ein deutlich getrübtes Investitionsklima – 2023 war für die deutsche Start-up-Szene kein einfaches Jahr. Gleichzeitig wurde in diesem Jahr wieder mehr gegründet¹ und der kometenhafte Aufstieg von Start-ups wie Aleph Alpha zeigt, dass sie weiterhin ein wichtiger Innovationstreiber für den Wirtschaftsstandort Deutschland sind. Wie sind diese gemischten Signale einzuordnen? Wie geht es der Start-up-Szene? Und welche Trends zeichnen sich für die Zukunft ab? Wir haben dazu mit einem Experten gesprochen, der seit Jahren die deutsche Start-up-Landschaft mitgestaltet: Florian Heinemann, Mitgründer und General Partner des Frühphaseninvestors Project A.
Das Handelsblatt berichtete kürzlich von einem Rekordhoch der Start-up-Insolvenzen. Erleben wir jetzt das in den vergangenen Monaten viel beschworene „Platzen der Start-up-Blase“?
Florian Heinemann: Nein, ich denke, es handelt sich um eine gesunde Konsolidierung. Die vergangenen Jahre während der Corona-Pandemie waren Ausreißerjahre, sprich das Geld war ungewöhnlich „billig“, Bewertungen waren aufgeblasen und es wurde in einem zu hohen Tempo investiert.
Risikokapital ist, wie der Name schon sagt, immer mit dem Risiko verbunden, dass zum einen ein Geschäft oder eine Technologie nicht funktionieren oder aber auch der Markt dafür nicht da ist. Das gehört einfach dazu. Neben der Pandemie haben wir mit dem Krieg in der Ukraine und dem generellen Wirtschaftsabschwung eine ungewöhnlich hohe Belastung zu meistern, was Start-ups natürlich auch merken. Was die Insolvenzen in der Szene betrifft, dürften wir vermutlich den Höhepunkt noch nicht gesehen haben, da viele der Unternehmen aus vorangegangenen Runden noch gut kapitalisiert sind und gleichzeitig die Kostenbasis gesenkt haben. Aber wenn die Krise noch länger andauert, werden zum Beispiel Bridge-Runden² natürlich zunehmend schwieriger.
Der letzte EY-Start-up-Monitor spricht von einem Investitionsrückgang um 49 Prozent im ersten Halbjahr 2023³. Auch das Handelsblatt fand in seiner Erhebung heraus, dass die investierten Summen in den ersten drei Quartalen 2023 um fast die Hälfte auf nur noch 5,4 Milliarden Euro gesunken sind. Woran liegt das?
Florian: Investoren nehmen sich wieder mehr Zeit für Deals. Wurden in den Hype-Jahren 2020/21 Deals im Rekordtempo in wenigen Tagen über Zoom abgeschlossen, wird jetzt wieder genauer geschaut und das Investment intensiver geprüft.
Im derzeitigen Marktklima strecken auch Investoren ihre Investments über einen längeren Zeitraum, da ja auch sie wieder neues Kapital von ihren Geldgebern für die nächste Fondsgeneration einsammeln müssen. Frühphasige Fonds sind darauf ausgerichtet, dass sie ein oder zwei Runden anführen, danach müssen die Folgefinanzierungen kommen. Das passiert derzeit aber weniger als sonst. Der Höhepunkt der Zinsentwicklung an den Märkten könnte aber bald erreicht sein. Wenn wir hier wirklich Sicherheit haben – und damit auch eine Neukalibrierung des Bewertungsniveaus erfolgt – würden die späterphasigen Finanzierungen vermutlich wieder zunehmen.
Laut Deutschem Start-up Monitor 2023 bewerten nur 15 Prozent der Gründer*innen die Investmentbereitschaft von Business Angels und Venture-Capital-Fonds (VC) derzeit als gut; 46 Prozent bewerten sie sogar als schlecht. Wo finden junge Gründer*innen aktuell noch verlässliche Investoren und Partner?
Florian: Meine Wahrnehmung ist, dass derzeit kapitaleffiziente Geschäftsideen gefragt sind, zum Beispiel Software und Digitalideen. Eine Ausnahme macht hier Climate Tech, das hat weiterhin Rückenwind. Generell gehen Frühphasen-Investments – Pre-Seed bis Series A so wie wir sie machen – aber ungehindert weiter. Das Kapital ist ja da, es wird nur langsamer investiert. Genug gute Ideen und tolle Gründerteams, die sich was trauen, gibt es auch. Sprich: VC-Fonds und Angel Investoren sind stets „open for business“. Zentraler im Blick sind derzeit Fokusthemen wie alles rund um KI, DeepTech, Supply Chain, aber auch Defence. Wichtiger denn je sind Netzwerke: Auch wir bringen spannende Gründerteams mit den passenden Angel Investoren zusammen und umgedreht.
Es handelt sich um eine gesunde Konsolidierung. Die vergangenen Jahre während der Corona-Pandemie waren Ausreißerjahre, sprich das Geld war ungewöhnlich „billig“, Bewertungen waren aufgeblasen und es wurde in einem zu hohen Tempo investiert.
Project A investiert paneuropäisch – seht ihr die Entwicklungen, die wir hierzulande beobachten können, auch in anderen europäischen Start-up-Ökosystemen?
Florian: Entwicklungen hierzulande betreffen unsere Kollegen in anderen europäischen Ländern gleichermaßen. Aber das europäische Start-up Ökosystem ist zusammengewachsen und herangereift. Europa hat viele großartige VCs hervorgebracht, die über Ländergrenzen hinweg zusammenarbeiten. Durch das Wegfallen von China als Investmentoption sind amerikanische institutionelle Investoren zu noch höherem Maße interessiert an der Finanzierung europäischer Start-ups. Und Europa ist und bleibt attraktiv für Talente aus dem Ausland.
Der Hype um Quick Commerce scheint nach einer Konsolidierungsphase nun abgeflacht. Was ist deine Prognose für den Trend Quick Commerce?
Florian: Gerade in den europäischen Ballungsräumen gibt es ja eine Nachfrage für sehr kurzfristige Lieferfenster für Lebensmittel und offenbar auch eine recht hohe Zahlungsbereitschaft in Bezug auf Liefergebühren, insbesondere auch außerhalb von Deutschland in Städten wie London, Paris oder Amsterdam. Insofern gibt es hier mit Sicherheit einen Markt, wenn auch die Lieferzeitfenster eher im Bereich von 30 bis 60 Minuten liegen werden, was eine Tourenplanung mit mehreren Stopps zulässt, so dass die Unit Economics hier in einen ökonomisch sinnvollen Bereich kommen können. Gleichzeitig handelt es sich hierbei vermutlich nicht um Modelle, für die Venture Capital eine geeignete Finanzierungsform wäre. Insofern ist auch nicht zu erwarten, dass hier – auch nach einer Erholung des allgemeinen Marktumfelds in 2024 oder 2025 – wieder deutlich mehr neue VC-finanzierte Firmen am Markt auftauchen werden. Meine Erwartung wäre aber schon, dass Anbieter von kurzfristigeren Lieferfenstern auch in Zukunft ein Teil des Lebensmittelonlinehandels darstellen werden.
Welche neuen Trends zeichnen sich im E-Commerce ab?
Florian: Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass eine bessere und personalisiertere Experience und Beratung im Onlinehandel neue Segmente für diesen erschließen wird – vor allem bei komplexeren Produkten und Dienstleistungen. Einer der relevantesten Trends im E-Commerce-Bereich – insbesondere auch gemessen an der ökonomischen Relevanz – ist aber vermutlich der Aufstieg von Playern wie Shein oder Temu. Neben problematischen Aspekten wie Nachhaltigkeit, Umsatzsteuer, Liefergebühren usw. ist es schon bemerkenswert, wie stark es diese Unternehmen schaffen, die zugrunde liegenden Lieferketten zu flexibilisieren und an die tatsächlichen Konsumentenpräferenzen anzupassen. Das wiederum sollte die Effizienz der Ressourcennutzung im Fashion-Bereich ja massiv verbessern – und das nicht nur im Niedrigpreissegment.
Vielen Dank, Florian!
Die Otto Group ist seit 2008 bei Headline, ehemals e.ventures, und seit 2012 bei Project A als Ankerinvestor an Bord. Seit 2020 ist die Unternehmensgruppe zudem Kapitalgeber bei Revent VC, einem Fonds mit Fokus auf nachhaltige und gesellschaftsrelevante Geschäftsmodelle. Über die bislang mehr als 300 Beteiligungen an digitalen Geschäftsmodellen erkennt die Otto Group frühzeitig neue Trends und lebt den stetigen Know-how-Transfer. Künftig werden wir hier regelmäßig Updates aus dem Start-up-Ökosystem teilen, die als Innovationsmotor Relevanz für den Handel haben.
Dr. Florian Heinemann ist General Partner und Mitgründer des Frühphaseninvestors Project A. Das Venture-Capital-Unternehmen investiert europaweit in digitale Geschäftsmodelle, die den Status Quo ihrer Branche herausfordern. Project A wurde 2012 gegründet und hat seitdem mehr als 100 Start-ups unterstützt, darunter Trade Republic, Spryker und Voi.
Zuvor war Florian u.a. Geschäftsführer bei Rocket Internet, wo er vor allem bei Zalando, Global Fashion Group und Spark Networks tätig war. Zwischen 1999 und 2006 gründete und führte Florian verschiedene Unternehmen und leitete das digitale Marketing von Jamba! und dem Online-Dating-Portal iLove. Als Investor und Business Angel hat er bis heute in mehr als 80 Startups investiert, darunter Trivago, Zalando, Lillydoo und die Code University.
¹ Start-up-Neugründungen steigen um 16 Prozent - EXIST - Existenzgründungen aus der Wissenschaft
² Bridge Financing: Brückenfinanzierung – eine kurzfristige Finanzierung, um eine Übergangsphase zu überbrücken
³ im Vergleich zu H1 2022