Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?
Das ist keine leichte Frage. Wenn ich meinen Wertekanon auf einen Nenner bringen soll, dann ist es wohl die Wahrhaftigkeit, die mich am meisten leitet. Ich bin christlich geprägt und habe sehr viel evangelische Jugendarbeit gemacht. Das christliche Verständnis, das Beste aus sich selbst zu machen und diese Freiheit stets auf andere Menschen zu beziehen, hat mich sehr geprägt. Wahrhaftigkeit bedeutet für mich, meine Werte mit meinem Denken, Sprechen und Handeln in einen größtmöglichen Einklang zu bringen. Ich glaube zutiefst, dass diese Wahrhaftigkeit von anderen Menschen als Integrität wahrgenommen wird, die es mir und anderen ermöglicht, vertrauensvoll miteinander umzugehen. Vertrauen ist die bedeutendste Währung und davon brauchen wir in einer Zeit großer Veränderung und erheblichen gegenseitigen Misstrauens dringend mehr.
Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?
Als ich vor einigen Jahrzehnten bei der Otto Group begonnen habe, war mein Arbeitsvertrag, auf den ich so stolz war, aus ziemlich dickem, grauen, um nicht zu sagen: hässlichem Papier. An meinem ersten Arbeitstag wurde mir erklärt, wie ich meinen Müll bitte sorgsam zu trennen habe. Ich habe erst nach und nach verstanden, worum es dem Unternehmer Michael Otto und dem Unternehmen ging: Achtsam mit den Ressourcen der Welt umzugehen und im Kleinen wie im Großen einen Beitrag dazu zu leisten, Fauna und Flora zu schützen. Das war damals ungewöhnlich, ja revolutionär.
Wie zeigt sich diese Überzeugung heute in der Otto Group?
Heute spricht jeder von Nachhaltigkeit oder dem englischen Buzzword Corporate Responsibility. Aber es geht heute wie damals um die Frage, mit welcher Haltung man ein Unternehmen führt. Ich bin von dem fasziniert, was die Gründerväter der damaligen Bundesrepublik ersonnen haben, nämlich die Soziale Marktwirtschaft. Sie bringt die beiden Werte, die unternehmerisches Handeln prägen können und sollten, in Einklang: Freiheit und Verantwortung. Zum einen also das, was Wirtschaft ausmachen sollte, nämlich die Freiheit, mit Innovationsfreude, Kreativität und betriebswirtschaftlichem Kalkül Waren und Dienstleistungen an Kund*innen zu bringen. Und andererseits dies stets mit dem Blick auf den Menschen – ob Kund*in, Kolleg*in oder Geschäftspartner*in – zu gestalten und dabei die großen Herausforderungen der Menschheit wie die Globalisierung, die Digitalisierung und den Klimawandel stets in den Blick zu nehmen. Das ist die Herausforderung, weshalb ich heute von einer Ökosozialen Marktwirtschaft sprechen würde.
Denken Sie, dass gerade ein Paradigmenwechsel in dieser Hinsicht stattfindet?
Sich als Teil der Gesellschaft und damit auch als Teil des Problems und der Lösung der großen Fragen dieser Zeit zu verstehen, wird von der Gesellschaft zunehmend gefordert. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass verantwortliches Handeln einer Branche oder eines Unternehmens auf kurz oder lang zur Licence to operate wird. Wir erleben das bereits bei jungen Kolleg*innen, die darauf bestehen, die Sinnhaftigkeit ihres Tuns mit den Werten zu verbinden, die im Unternehmen propagiert und vor allem sichtbar gelebt werden. Wertschätzung für die gesellschaftlichen Herausforderungen definiert in Zukunft den inneren Wert von Unternehmen, Waren und Dienstleistungen und wird zum Wettbewerbsvorteil gegenüber Unternehmen, die ausschließlich am Shareholder-Value orientiert sind. Aus meiner Sicht ergeben sich insbesondere für Unternehmen mit einem europäischen Wertekanon weltweit ganz hervorragende Chancen.
Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?
Das ist eine sehr spannende Frage, die ich in den letzten Monaten in einem Kreis von Kolleg*innen sehr unterschiedlicher Richtung sehr ernsthaft diskutiert habe. Als eine Unternehmensgruppe, die von der Digitalisierung der Konsument*innen, der Geschäftsmodelle und der Wettbewerbsarena hautnah betroffen ist, spüren wir die Notwendigkeit, unsere bisherige Art von Führung, Organisation und Prozessen grundlegend zu hinterfragen. Das ist der Grund, warum wir uns in den letzten vier Jahren im Zuge eines umfassenden Wandlungsprozesses stark verändert haben. Der Wandel der Kultur unseres Miteinanders war uns dabei wichtiger als vordergründige Restrukturierungen. Wir haben gelernt, dass sich die Haltung insbesondere von Führungskräften erheblich verändern muss, damit partizipative, kollaborative und agile Prozesse entstehen können.
Was bedeutet das konkret?
Wir brauchen keine neuen Werte, stattdessen eher ein Revival alter Werte: Achtsamkeit, Authentizität und ein neues Verständnis von Vielfalt, dass Unterschiede zwischen den Menschen nicht nur akzeptiert, sondern als Chance wahrnimmt – um nur diese drei zu nennen. Dabei werden die Themen verantwortlichen Handelns im Zeitalter der Digitalisierung breiter. Viele Menschen sorgen sich, ob sie die damit einhergehenden Veränderungen bewältigen können. Der Umgang mit Daten und die Auseinandersetzung mit der Zukunft von Arbeit sind die beiden Themenräume, in denen laut Expertenmeinung Lösungen von uns als Otto Group erwartet werden. Aus diesem Grund haben wir zu diesen Themen einen Dialog mit Stakeholdern begonnen, um Wertbeiträge zu leisten. Wenn wir der zunehmend zu beobachtenden Vertrauenskrise in der Gesellschaft begegnen und weiterhin werteorientiert leben und arbeiten wollen, braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, bei dem wir alle am Prozess Beteiligten mitnehmen müssen.
Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?Ich glaube nicht, dass die Werte der jungen Generation sich fundamental von denen der älteren Generation unterscheiden. Sie werden nur anders gelebt. Das beobachte ich nicht zuletzt bei meinen eigenen Kindern. Ich erlebe die junge Generation heute sehr motiviert und engagiert. Einerseits rückt die Entfaltung des eigenen Individuums stärker in den Fokus und damit auch die sinnhafte persönlichen Entwicklung. Andererseits herrscht ein viel größerer Gemeinsinn, als ich dies bei älteren Generationen beobachte. Beides zusammen finde ich sehr erfreulich und ja, es ist natürlich zukunftsfähig. Das hat auch Auswirkungen auf unser gesellschaftliches Miteinander, auf die Zukunft unserer Arbeit und auf unsere Unternehmenskultur. Wir alle müssen uns bewegen. Der Umgang miteinander, das Zusammenleben der Menschen und der Umgang mit anderen Kulturen müssen sich definitiv verändern. Wir müssen offener und mutiger werden, wir müssen lernen, loszulassen, toleranter zu werden und mehr Freiräume zu schaffen, wenn wir unsere gesellschaftlichen Probleme langfristig lösen und den digitalen Wandel meistern wollen. Nach wie vor suchen gerade junge Menschen nach Vorbildern. Zwar wissen sie heute mehr als so mancher erfahrene Manager, aber das Erfahrungswissen ist immer noch ein hohes Gut, das auch ebenso hochgeschätzt wird. Wichtig ist bei allem, dass wir die vor uns liegenden Veränderungen generationenübergreifend und gemeinsam gestalten.
Ethischer Konsum wird laut Trendforschung immer mehr zu einem Mainstream-Phänomen. Kund*innen sind zunehmend bereit, für nachhaltig produzierte Waren auch etwas mehr zu bezahlen. Wie weit wird diese Entwicklung gehen?Die Verantwortung von Unternehmen geht zunehmend über die ökologische und soziale Qualität ihrer Produkte und Dienstleistungen hinaus. Haltung und Weitsicht sind gefragt. Der Trend zum ethischen Konsum ist seit vielen Jahren zu beobachten. Der Fokus der Konsument*innen indessen hat sich stark geändert. Sie wollen nicht mehr nur für sich selbst etwas Gutes tun, sie wollen mit ihrem Konsum immer öfter auch etwas für andere bewegen. Dies hat für Unternehmen inzwischen tatsächlich spürbare Konsequenzen, denn wer durch seine Wirtschaftstätigkeit Umwelt und Natur nachweislich schädigt, hat es im Wettbewerb zunehmend schwer. Wer die Werte seiner Kund*innen, an die diese selbst glauben und an denen sie festhalten, nicht teilt, dem wird das Vertrauen schnell entzogen. Und wer sich seiner Verantwortung für das Gemeinwohl entzieht, der wird mitunter sogar boykottiert. Es geht also nicht zuletzt um die ,Licence to operate‘.
Die Corona-Pandemie hat in den letzten Jahren die Gesellschaft erschüttert. Wie hat sich in Ihren Augen das Verhalten der Kund*innen geändert?
Der Einzelhandel wird auf absehbare Zeit mit einer Konsumzurückhaltung umgehen müssen. Die Rechnung ist doch sehr einfach: Wer sich massiven Mehrausgaben bei Sprit, Gas, Heizöl, Lebensmitteln, Lebenshaltungskosten in Gänze stellen muss, dem fehlt das Geld für andere Ausgaben. Damit werden wir alle zumindest kurz- und mittelfristig leben müssen. Hier haben wir auch schon vor dem Krieg in der Ukraine ein Ende des Coronabooms gesehen. Gleichzeitig setzen wir als Otto Group auf einem sehr fundierten Fundament mit Millionen neuer Kund*innen auf. Insofern: Gerade der Onlinehandel wird weiterwachsen, wenn auch nicht mehr so fulminant wie in den zurückliegenden zwei Jahren.
Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt Werte erfolgreich leben?Offenkundiges Fehlverhalten der Wirtschaftseliten hat es zu jeder Zeit gegeben. Ich glaube, dass dies angesichts der hohen Transparenz, die wir in allen Gesellschaften mit dem Internet haben, nicht mehr akzeptiert und zu Recht skandalisiert wird. Umso größer ist die Herausforderung für Unternehmer und Unternehmen, Vertrauen zurückzugewinnen. Das geht nicht mit starken Sprüchen und bunten Kampagnen, sondern mit harter Kärrnerarbeit im Maschinenraum des eigenen Unternehmens, mit einer sehr ehrlichen und transparenten Kommunikation und der gelebten Haltung, weit über den Tellerrand der eigenen Filterblase hinaus, Lösungen anzubieten und anzustreben. Dazu braucht es eine klare Haltung, Mut und die Bereitschaft zur tatsächlichen Veränderung.
Die Welt befindet sich gerade in einer gewaltigen Krise. Nicht nur der Krieg in der Ukraine, auch die Klimakrise macht vielen Menschen Angst. Welche Rolle kommt in diesen unsicheren Zeiten Unternehmen zu?Fakt ist, dass Unternehmen schon immer Teil der Gesellschaft waren und eben gerade nicht in irgendeinem luftleeren Raum agieren. Wir sind Teil des Problems, können aber auch Teil der Lösung sein. Anders gesagt: Wir haben eine gesellschaftliche Verantwortung und sind zunehmend gefordert, diese Verantwortung in konkrete Handlungen zu überführen. Nur zwei Beispiele: Immer mehr Konsument*innen erwarten von Unternehmen, dass sie Produkte und Dienstleistungen anbieten, die die Umwelt und auch die Menschen selbst schonen. Und immer mehr Arbeitnehmer*innen wünschen sich, für ein Unternehmen zu arbeiten, das neben den rein wirtschaftlichen Zielen auch sinnstiftend aktiv sein und im Hinblick auf das gesellschaftliche Miteinander eine positive Wirkung entfalten will. Diesen Auftrag nehmen wir als Otto Group an und haben dies auch schon in der Vergangenheit getan. Wir können die großen Herausforderungen unserer Zeit, angefangen beim Klimawandel, nur in einem gemeinsamen Kraftakt bewältigen.
1964 geboren in Hamburg, ist seit 1. Januar 2017 Vorstandsvorsitzender der Otto Group. Zuvor war er als Konzernvorstand für die strategische Weiterentwicklung verschiedener Firmen innerhalb der Otto Group verantwortlich. Nach dem Betriebswirtschaftsstudium an der Wirtschaftsakademie Hamburg nahm Birken seine erste berufliche Tätigkeit bei Philips Medical Systems auf. 1991 stieg Birken im Controllingbereich der Otto Group ein. Von 1998 bis 1999 übernahm er die Verantwortung für das Beteiligungscontrolling der Otto Group im amerikanischen und asiatischen Markt. 1999 bis 2002 leitete Birken das weltweite Beteiligungscontrolling der Otto Group. 2002 bis 2004 war er als Chief Operating Officer der Spiegel Group in Chicago, USA, tätig. Seit 2005 ist Birken Mitglied des Vorstandes der Otto Group. Er war operativ für die Bereiche Personal, Steuerung und IT von OTTO zuständig. Alexander Birken ist verheiratet und Vater von vier Kindern.
Dieses Interview wurde um aktuelle Fragen ergänzt; ursprünglich erschien es in:
Sven H. Korndörffer und Christiane Harriehausen (Hg.):
Apropos Werte
FAZ Buch, 2020,
Mit freundlicher Genehmigung des FAZ-Verlags.
https://fazbuch.de/produkt/apropos-werte-haltung-orientierung-erfolg/